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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Konzertante Opernaufführungen

Die Oper ohne Unterleib

Noch gilt sie als Aschenputtel, die konzertante Opernaufführung. Das Stiefkind des Konzertbetriebs wird wegen ihrer bescheidenen Ansprüche an knappe Budgets zwar gern eingesetzt, aber selten geliebt. Doch der Prinz fürs Leben scheint nah: Weil konzertante Oper immer wieder für unerwartete Sternstunden im Konzertalltag gut ist, haben Musiker und Veranstalter sie neu für sich entdeckt.

Die »Oper ohne Unterleib«, wie sie von Spöttern genannt wird, hat zwar eine bewegte, aber keineswegs nur unglückliche Geschichte hinter sich. Fast immer war sie mit von der Partie, wenn sich Revolutionen im Musiktheater abzeichneten. Schon bevor sich der Vorhang zur ersten Oper hob, gab es das Genre der Madrigalkomödie, in dem das Geschehen von mehreren Sängern gleichzeitig erzählt und verkörpert wurde. Später wurde dann die Serenata beliebt: Ein dialogförmig gestaltetes Stück, dessen lockere Handlung vor einem stehenden Bühnenbild vorgetragen wurde. Auch Pergolesis »Serva padrona «, das erste Musiktheaterstück, das sich bis heute ohne Unterbrechung auf den Spielplänen hält, kam mit spärlichen szenischen Mitteln aus: Als Pausenfüller spielte es auf einer schmalen Vorbühne, während hinter dem Vorhang die Umbauten für die Hauptoper des Abends vorgenommen wurden. Auch Oratorien spielten ins Szenische und konnten mit Kostümen vor gemalten Dekorationen gesungen werden. Möglich war das, weil das heroische Schauspiel und die öffentliche Rede noch nicht so deutlich getrennt waren wie heute: Prediger und Schauspieler lernten die Vortragskunst zum Teil aus den gleichen Lehrbüchern. Mit Gluck war damit Schluss: Er erkor die Natürlichkeit des Ausdrucks zum Ideal. Bald zeigte sich, dass dieses Ideal keineswegs leicht zu erreichen ist: »Ach! Es graut mir vor allem Kostüm- und Schminke- Wesen«, gestand Richard Wagner in einem schwachen Moment, »wenn ich daran denke, dass diese Gestalten wie Kundry nun sollen gemummt werden, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein, und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden!« Während Wagner weiter mit der Bühne kämpfte, zog ein anderer enttäuschter Opernvisionär, nämlich Hector Berlioz, Konsequenzen: Er erfand mit »Fausts Verdammnis« die komponierte konzertante Oper für die Bilder im Kopf. Doch er blieb ein Einzeltäter. Spätestens mit dem 20. Jahrhundert geriet die konzertante Oper dann zwischen alle Stühle: Ob Film, ob reduziertes episches Theater oder durchgestyltes Popkonzert ohne Frack und Notenblätter: All dies ließ die konzertante Oper zunehmend alt aussehen.
Doch gegen diese Entwicklung revoltieren immer mehr Musiker. Einer von ihnen ist Lothar Zagrosek. »Mit der Form, wie Oper normalerweise konzertant gemacht wird, bin ich völlig unzufrieden, das ist meistens nur peinlich«, klagte der Chef des Berliner Konzerthausorchesters – und erklärte die konzertante Oper zur Chefsache. Zusammen mit dem Regisseur Joachim Schlömer brachte er kürzlich gleich drei Reformopern Glucks auf das Konzertpodium. »Konzertante Aufführung mit Szene« nannte man den ehrgeizigen Versuch, bei dem die Opern in je vier Tagen Probenzeit mit geringem Kostümaufwand, Videoinstallationen und einem schwarzen Multifunktionskubus als Bühnenbild aufgeführt wurden. Was Künstler wie Zagrosek antreibt, ist die Aussicht, schnell, flexibel und unaufwändig interessante Opern vorstellen zu können, die es nicht in das Programm teuer produzierender Opernhäuser schaffen. Zudem reizt ihn die Möglichkeit, mit ganzen konzertanten Reihen neue Schlaglichter auf das Gesamtwerk eines Komponisten zu werfen. Nicht weniger wichtig ist ihm jedoch auch, auf den gewandelten Anspruch des Publikums an die visuelle und körperliche Ausdruckskraft eines Konzerts zu reagieren: «Der szenische Effekt eines Konzerts dringt generell immer mehr in den Wahrnehmungshorizont von Veranstaltern ein«, weiß Zagrosek: »Man spürt, dass das, was wir als Dirigenten und als Musiker auf dem Podium machen, in gewisser Weise auch mit Theater zu tun hat.«
Nur hielt dies bisher selten dem kritischen Blick derjenigen stand, die sich professionell mit szenischen Vorgängen befassen: »Dieses ‚neckische Spiel’, das die Sänger gewöhnlich untereinander treiben«, stöhnt Joachim Schlömer, »das finde ich einfach grauenvoll. Es geht nie um den großen Bogen, es wird nie daran gedacht: Wie kann ich etwas vorwegnehmen, was später einmal wichtig wird?« Seine Forderung: Konzertante Opern müssten mehr sein als eine willkürliche Mischung aus dem, was die Sänger aus bisherigen Inszenierungen mitbrächten. Ob das Team Zagrosek/Schlömer den eigenen Ansprüchen gerecht geworden ist, steht dahin. Zu wenig unterschied sich ihr ambitionierter Versuch, bei dem unter anderem Orpheus im Punkeroutfit auftrat, von einer Off-Theater-Produktion. Doch die richtige Frage hat das Experiment endlich laut gestellt: Wie sieht eine gelungene konzertante Opernaufführung aus
Eine Frage, auf die andere Pioniere auf dem Gebiet mit einer Gegenfrage antworten könnten. »Was schreiben wir aufs Plakat?«, bringt Thomas Krümpelmann das Dilemma des Genres auf den Punkt. Krümpelmann ist Dramaturg für das Balthasar-Neumann-Ensemble, das mit einer Vielzahl von Aufführungsformen zwischen Oper und inszeniertem Konzert arbeitet und dabei mit Erzählern, Kostümen und immer wieder »viel, viel Licht« experimentiert. Seine Analyse: Im Opern- und Konzertbetrieb gebe es derzeit eine strikte Trennung zwischen extremem Bühnenaufwand und Nullinszenierung. Diese künstliche Trennung werde weder der Vielzahl der Gestaltungsmöglichkeiten noch den Bedürfnissen der Zuhörer gerecht. Vorteil und Nachteil des Genres: Es fehlt an einer klar bestimmbaren Erwartungshaltung. Denn mag das Publikum von einer konzertanten Oper auch nichts Besonderes erwarten, vergleichen kann es sehr wohl. Zumal in einem Zeitalter, in der große Operninszenierungen auch vor schlichtem Rundhorizont denkbar sind und sich jede lokale Popband und jede kleine A-Cappella-Gruppe Gedanken über Licht, Bewegungen, Outfit und Haltung macht.
Hilfreich wäre es da, allgemein anerkannte Klassiker vorweisen zu können. Wobei die naive Frage: »Welche großen konzertanten Opernaufführung können Sie mir nennen?« sowohl Opernkennern als auch DVD-Anbietern erst einmal den Schweiß auf die Stirn treibt. Denn es gibt weder Starregissure der konzertanten Oper noch einen festen Ort, den man mit ihr in Verbindung bringen kann. Nur vereinzelt tauchen große Momente in der Erinnerung auf: Tristan und Isolde, die sich nach Stunden in einer kleinen großen Geste die Hand reichen, eine »Entführung aus dem Serail « mit nur einem Stuhl als Requisit, oder auch Susan Graham und Thomas Hampson, die sich in Massenets »Werther« küssen, ohne durch Kostümierung gezwungen zu sein, 20-Jährige zu mimen. Als bester Rat erweist sich da die Faustregel des Dramaturgen, auf Dirigenten mit großer Bühnenpräsenz zu achten. Sie führt uns denn auch zu einem echten Klassiker des Genres: Leonhard Bernsteins 1989er Konzertversion des auf der Bühne verunglückten Musicals »Candide«: Typgerecht gecastete Sänger, die nicht für eine Sekunde an den Noten kleben, eine Dramaturgie, die virtuos mit Erzähler- und Darstellerrolle spielt und dabei das ganze Ensemble einbezieht, zwei winzige Requisiten – und mittendrin ein charismatischer Bernstein, der vorlebt, warum auch im Konzert die ganze Welt zur Bühne werden muss.

Carsten Niemann, 21.06.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2008



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