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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Klavier für die linke Hand

Und das mit Links

Der Pianist Paul Wittgenstein, Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein, verlor im Ersten Weltkrieg den rechten Arm. Für ihn bedeutete dies jedoch keineswegs das Ende seiner Karriere. Er brachte viele weltberühmte Komponisten dazu, zahlreiche Stücke für ihn zu schreiben. Eine kleine Geschichte des Klavierspiels mit links von Thomas Rübenacker.

Klavierspielen ist schon mit zwei Händen schwer. Mit nur einer wird’s höllisch, denn klingen, bitteschön, soll es immer noch, als seien zweie im Spiel. »Erfunden« wurde das Einhandspiel im 19. Jahrhundert, als das Virtuosentum ins Kraut schoss. Damals galt es als ein pädagogisches Mittel, in Etüden für die linke Hand diese allein zu stärken, befreit aus der dienenden Bassfunktion, unabhängig gemacht von der Rechten. Ein typisches Beispiel ist die »Étude pour la main gauche seule« des Russen Felix Blumenfeld. Da rauscht es in Tastengirlanden und gewittert in allem, was mit nur einer Hand gerade noch zu greifen ist. Wenn ein Erzvirtuose wie Michael Ponti das spielt, im Konzert und voll auf Risiko, dann klingt es mitunter, als seien in Wahrheit vier Hände im Spiel, oder wenigstens drei. Leopold Godowsky, ein Tastenlöwe des 19. Jahrhunderts, gefiel sich darin, Chopins Etüden noch kräftig zu erschweren – indem er einige davon für die linke Hand allein setzte. So weit die Pflicht des angehenden Klaviervirtuosen. Die Kür kam später.
Sie verdankt sich letztlich einem einzigen Mann: Paul Wittgenstein. Er wurde 1887 in Wien geboren, in eine der wohlhabendsten jüdischen Familien Europas hinein. Alle neun Wittgensteinkinder wurden musisch erzogen, Paul lernte Klavier, seine Schwestern lernten Streichinstrumente beziehungsweise Flöte, und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Ludwig wurde Philosoph, einer der bedeutendsten Positivisten des 20. Jahrhunderts. Die großbürgerliche Noblesse und Weltoffenheit, der Kunstsinn und die Gastfreundschaft des Hauses Wittgenstein zog große Komponisten unwiderstehlich an, von Brahms bis Mahler, von Alexander Zemlinsky bis Richard Strauss. Und der Knabe Paul durfte mit ihnen vierhändig Klavier spielen, so etwas prägt natürlich. Den ersten Unterricht genoss er bei einer gewissen Malwine Brée, die offenbar mittags um zwölf noch im Morgenmantel, mit wirrem Haar und Alkoholfahne sowie Zigarre rauchend unterrichtete. Dann nahm ihn Theodor Leschetizky unter seine Fittiche, einer jener Tastenlöwen des 19. Jahrhunderts. Er machte einen Virtuosen aus ihm. 1913 debütierte Paul Wittgenstein als Pianist – und dann kam der Krieg. Wittgenstein wurde zum Militärdienst eingezogen und bei einem Scharmützel in Polen am rechten Arm verletzt. Die Verletzung war offenbar so gravierend, dass ihm später in russischer Gefangenschaft der Arm amputiert werden musste. Aber Paul Wittgenstein war keiner, der aufgab. Seine Erziehung hatte ihm »Selbstmitleid« als verachtenswert nahegelegt, und deshalb zog er sich einarmig auch nicht zurück – er hätte ja, mit dem Familienvermögen, ein Leben in Saus und Braus führen können. Nein, er machte weiter. Er trainierte den linken Arm, die linke Hand so, dass er eine Art Übervirtuose des Einhandspiels wurde. Nur gab es dafür, außer den genannten Etüden, nicht allzu viel Literatur. Und so beschloss Paul Wittgenstein etwas, was ihn letztlich unsterblich machte. Er nutzte die üppigen Finanzmittel der Familie sowie ihre glänzenden Beziehungen zu den großen Komponisten der Zeit, um neue Werke in Auftrag zu geben. Werke für Klavier und was immer, aber nur für die linke Hand. Prokofjew, Ravel, Richard Strauss, Benjamin Britten – natürlich sagte keiner nein. Einerseits geht die Kunst nach Brot, andererseits war das eine Herausforderung: etwas zu erschaffen, bei dem es kein Makel wäre, Klavier mit nur einer Hand zu spielen.

Paul Wittgenstein war ein schwieriger Auftraggeber. Er hatte an dem fertigen Produkt immer etwas herumzumäkeln.

Zuerst sprach Wittgenstein Freunde der Familie an – die Komponisten, mit denen er als Knabe vierhändig Klavier spielen durfte. Das waren Richard Strauss (sein Favorit), Franz Schmidt und Erich Wolfgang Korngold. Andere Lumineszenzen folgten: Prokofjew, Ravel, Hindemith, Benjamin Britten. Dabei war Paul Wittgenstein ein schwieriger Auftraggeber. Er hatte an dem fertigen Produkt immer etwas herumzumäkeln: Bei Ravel schmeckte ihm der Jazz nicht, bei Britten missfiel ihm die Orchestrierung, und Prokofjews viertes Klavierkonzert spielte er gleich gar nicht: »Tut mir leid, ich verstehe es nicht« war der lakonische Kommentar. Aber er fand sich, außer bei Prokofjew, normalerweise »dann doch hinein« – sogar mit einem für einen so herrischen Menschen geradezu selbstkritischen Satz wie diesem: »Es gibt eben doch noch so manches außerhalb von dem, was man gelernt hat.« Richard Strauss komponierte Paul Wittgenstein den »Panathenäenzug«, im Untertitel »Symphonische Etüden in Form einer Passacaglia«, glänzend eingespielt von Rudolf Serkin (CBS). Erich Wolfgang Korngolds Suite op. 23 für zwei Geigen, Cello und Klavier linke Hand wurde erst vor Kurzem neu aufgenommen vom Trio Parnassus plus Matthias Wollong (MDG). Ebenso Franz Schmidts »Concertante Variationen über ein Thema von Beethoven« sowie ein Konzert Es-Dur mit Carlo Grante, dem MDR-Sinfonieorchester und Fabio Luisi (MDR-Edition).
Prokofjews viertes Klavierkonzert, das er Paul Wittgenstein (im wahrsten Sinne des Wortes) »auf den Leib« schrieb, ist übrigens das einzige, das der Komponist zu Lebzeiten nicht aufgeführt vernahm: Wittgenstein wollte es selbst zwar nicht spielen, aber er gab es auch für keinen andern frei. Inzwischen haben wir mehrere Aufnahmen davon, eine der besten ist die mit Leon Fleisher, dem ein Nervenleiden den Gebrauch der rechten Hand zeitweise unmöglich machte. Begleitet wird er vom Boston Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa. Maurice Ravel nahm Wittgensteins Auftrag als willkommene Herausforderung: Er studierte monatelang die linkshändigen Etüden seines Landsmanns Camille Saint-Saëns, dann komponierte er sein Konzert D-Dur für Klavier linke Hand und Orchester. Sein Kommentar: »Das Konzert (…) ist anders geartet und in einem einzigen Satz mit viel Jazz-Effekten. Der Stil ist nicht so einfach. In einem Werk dieser Art besteht das Wesentliche darin, dass man nicht den Eindruck eines leichten Klanggewebes erweckt, sondern im Gegenteil die Illusion gewinnt, es sei für beide Hände geschrieben.« Exzellente Aufnahmen gibt es von fast allen großen Pianisten. Apropos: Ravels D-Dur-Konzert kommt sogar in der US-amerikanischen Fernsehserie »MAS*H« vor. Ein junger Pianist wird in Korea verwundet und droht, an seinem Schicksal zu zerbrechen. Daraufhin zeigt ihm der gebildetste der Lazarett-Ärzte Ravels Konzert – und rät ihm, nicht aufzugeben, man könne auch mit links noch herrlich Klavier spielen. Leon Fleisher soll diese Episode angeblich besonders mögen.

Thomas Rübenacker, 07.06.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2008



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