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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Andreas Scholl

Gott sitzt nicht im Publikum

Im sintflutartig verregneten Lausanne probierte der Countertenor Andreas Scholl Händels »Giulio Cesare«, er selbst in der Titelrolle. Thomas Rübenacker stürzte sich in die Fluten und befragte den Altus nach einer zeitgemäßen Alternative fürs Kastrieren, nach seinem Verhältnis zu Neuer Musik und warum seine jüngste CD, gewidmet vorwiegend dem Berufsmelancholiker John Dowland, manchmal so lustig ist.

RONDO: Früher wurden Männer kastriert, um das zu machen, was Sie machen. Davon ist man abgekommen, heute wird falsettiert. Gibt es dafür eine bestimmte Methode?

Andreas Scholl: Nein. Wenn die Veranlagung da ist, gelten für einen Countertenor dieselben Regeln gesunden und entspannten Singens wie für eine Altistin. Die natürliche Auslese ist allerdings spezieller, der eine hat’s, der andere nicht. Man versucht, den Stimmbruch zu überbrücken, dann zeigt sich, ob eine kernige, tragfähige Kopfstimme vorhanden ist und nicht nur Gefistel. Falls ja, muss allerdings tägliches Training stattfinden. Falsettieren kann jeder Mann, wenn er beispielsweise eine Frau nachäfft. Aber das befähigt ihn natürlich noch lange nicht, eine Händelarie zu singen.

RONDO: Aber die Kastraten von ehedem, Leute wie Farinelli oder Senesino, waren doch mythische Figuren, färbt das nicht aufs Heute ab?

Scholl: Es gibt keinen Bonus für die Fähigkeit, als Mann so hohe Töne zu singen. Bei Aufnahmeprüfungen sage ich den Kandidaten, dass sie in direkter Konkurrenz zu den Sopranen stehen. Der Nimbus von »Wunder« oder »Geheimnis« ist völlig fehl am Platze. Talent ohne Arbeit nützt wenig, noch weniger allerdings Arbeit ohne Talent.

RONDO: Ihre normale Sprechstimme ist ja wohl ein Bariton.

Scholl: Im Allgemeinen sind Countertenöre Baritone, die eben die Oktave höher in Kopfstimme singen. Ein Tenor hätte es da schwer, weil der Registerwechsel genau im Altrepertoire liegt, das heißt, die hohen Töne des Tenors springen ins Altregister, die tiefen Alttöne ins Tenorregister. Dann gibt es diese Gangwechsel (demonstriert singend), dieses »passagio« am Übergang von Kopf- zu Bruststimme. Das ist unglaublich schwer und ohne Brüche kaum zu bewältigen.

RONDO: Sie übernehmen innerhalb eines Barockliedes mitunter bis zu drei »Rollen«, etwa Schäferin, Schäfer und Erzähler. Reizt Sie da nicht auch mal Schuberts »Erlkönig«? Da wären es vier.

Scholl: Durchaus, ich liebe Herausforderungen. Gerade habe ich in Tel Aviv nach einem Meisterkurs Haydnlieder mit modernem Klavier gesungen. Aber diese Herausforderung gibt es auch in Händels italienischen Kantaten oder in Folksongs, die ich besonders gerne singe. Da bin ich der Erzähler und die Mutter, deren Kinder sterben und als Geister wiederkommen: ein ganzes Stimmen-Panoptikum!

RONDO: Sie sind bekannt als geradezu fanatischer Textarbeiter.

Scholl: Die Leute fangen viel zu früh an, »Kreativität« spielen zu lassen, und übersehen dabei wichtige Wegmarkierungen des Komponisten. Ich zeichne mit Bleistift erst einmal meine Route in die Partitur ein: Textanalyse, was sind die Zielworte, in welche Richtung lenke ich meine Energie. Mit welchem Affekt spricht die Mutter und zu wem. Man trägt einen Affekt bis zum Ende einer »Rolle«, und mit dem neuen Atem inhaliert man sozusagen die nächste Person, die jetzt spricht. Bei Händel jagt Julius Cäsar donnernd die Diener aus dem Raum, dann wendet er sich liebevoll Cleopatra zu. Das muss im Handumdrehen passieren, nicht als Überblendung, sonst ist es verschenkt: Der Hörer versteht es nicht. Die »Kreativität« hat erst einen Sinn, wenn alle Hausaufgaben gemacht sind.

RONDO: Also »Prima le parole, poi la musica« und nicht umgekehrt?

Scholl: In der Barockmusik ganz klar: Das unterscheidet sie von der Renaissance, in der das Kunstwerk Vorrang hatte und nicht das Menschendrama. Unumstritten war das nicht, selbst ein Monteverdi wurde angegriffen für das, was er »seconda pratica« beziehungsweise den »stile affettuoso« nannte – die Musik fing plötzlich an, Text zu erzählen, und der Hörer konnte sein Leben integrieren. Natürlichkeit und Kommunikation waren Trumpf, »bewegen und belehren«, ein menschliches Antlitz. Den »Opern-Affekt« gab’s ja erst sehr viel später, er macht das Genre manchmal so schwer erträglich.

RONDO: Sie mögen Wagner und Verdi nicht?

Scholl: Bei denen habe ich manchmal den Eindruck, das Drama drückt sich in Dezibel aus, zwischen Mezzoforte und Forte. Da ist die Barockoper viel präziser und nachvollziehbarer. Die Neue Musik übrigens ist wieder zurückgefallen auf die »prima pratica«, sie kümmert sich nicht mehr ums Publikum. Ein Auftrag wird erteilt, das Stück dann einmal gespielt und fortan nie wieder.

RONDO: Leider kann ich jetzt nicht, wie Woody Allen im »Stadtneurotiker« Marshall McLuhan, Wolfgang Rihm aus der Kulisse zaubern. Der würde Ihnen was husten.

Scholl: (lacht) Auch auf dem Gebiet gibt es größere und kleinere Talente!

RONDO: Sprechen wir noch über Ihre neue CD: Ist der britische »Melancholicus« John Dowland abendfüllend?

Scholl: Man muss ihn nur kontrastieren mit anderen Stücken der Epoche, etwa von William Byrd. Und dann gibt es da ein ganz reizendes Lied von John Bennet, in dem ich sogar pfeife. Nur so aus Spaß, aber der Aufnahmeleiter meinte: Das nehmen wir! Und so gibt es eben auch leichtere Momente. Wichtig ist nur, dass ich mit der Musik eine Geschichte erzähle, mal traurig, mal fröhlich. Und wenn ich zu »Gott« singe, ist es eben ein Gebet und ich schaue dazu nicht ins Publikum, denn dort sitzt er vermutlich nicht.

RONDO: Wer weiß …

Scholl: Die Dowlandlieder sind kostbare Miniaturen, begleitet nur von einer Laute. Da kann man sich nicht verstecken. Ein schlechter Tag, die Stimme ist belegt – mit Orchester singt man da drüber weg. Mit der Laute geht das nicht, die Stimme ist nackt, und wahrscheinlich hat man Angst. Wenn man sich aber darauf einlässt, sind das die intensivsten Konzerte, eineinhalb Stunden fast allein mit einem Publikum. Sozusagen die ein-und-ein-halb-»Stunde der Wahrheit«!

Neu erschienen:

Crystal Tears

Andreas Scholl, Julian Behr, Concerto di Viole

harmonia mundi

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Dowland-Renaissance

Dass er gerade jetzt wieder Konjunktur hat, ist eines jener Phänomene, die den Musikbetrieb unter Strom halten: John Dowland, sensibelster Lautenist des elisabethanischen Zeitalters (also der Renaissance), Schöpfer einer Vielzahl von Liedern mit Trauerrand, Chef-«Melancholicus« einer Epoche, die gern eine Träne im Knopfloch trug. Es wurde regelrecht zum Statussymbol, sich von Dowland eine »Namenskomposition« schreiben zu lassen: »The Rt. Honourable Earl of Essex, His Galliard« oder »The Lady Tremayne, Her Pavane«. Das galt so viel, als wäre man von der Queen zum Ritter geschlagen worden. Die übrigens verweigerte dem »Melancholicus« jenen Posten, den er so begehrte: den des »Musician of the Lute« bei Hofe. Und das, obwohl der Europareisende vermutlich ein geplantes Attentat auf die Monarchin verhinderte. Selbst eine Ergebenheitsadresse Dowlands, »The Most Sacred Queen Elizabeth, Her Galliard«, konnte Elizabeth I. nicht umstimmen. Erst unter ihrem Nachfolger James I. wurde er Cheflautenist am Hofe Englands.
Eine Reihe neuer Dowlandaufnahmen benetzt derzeit den Markt mit »kristallenen Tränen« – die schönste davon ist Andreas Scholls Kompendium, das auch so heißt: »Crystal Tears«. Hopkinson Smith, derzeit wohl bester Lautenist und somit Dowlandnachfolger, brachte »John Dowland: A Dream« heraus, während die Virtuosin der keltischen Harfe und Komponistin Lisa Lynne mit »Maiden’s Prayer« der allgemeinen Dowlandverehrung einen Drall in die New- Age-Mystik gab. Besonders spektakulär aber war anno 2006 die Dowlandscheibe des Popmusikers Sting, »Songs from the Labyrinth«. Dazu meint Andreas Scholl: »Die Unterscheidung in U- und E-Musik gab es zu Dowlands Zeit noch gar nicht. Er war immer beides, populär und elitär. Einfach tolle Musik! Und tolle Texte! Sting habe ich damit live in Basel gehört, und auch wenn er kein ausgebildeter Sänger ist: Er erfüllt Dowlands Mission, er gibt ihr sein Eigenstes. Das war schön.«

Thomas Rübenacker, 31.05.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2008



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