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N° 1353
13. - 23.04.2024

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am 20.04.2024



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Neupressungen auf Vinyl

Schwarzes Rillengold

Ob Trendwende oder doch nur Strohfeuer – die Klassik-LP erlebt zurzeit ein erstaunliches Revival. Es ist nicht nur ihre besondere Aura der Unkopierbarkeit, es ist vor allem ihr unübertroffen warmer und natürlicher Klang, der die HiFi-Freaks zum Vinyl greifen lässt. Gerade hat die Firma Edel ein volles Dutzend Vinylscheiben mit Aufnahmen des DDR-Labels Eterna wiederveröffentlicht.

Kürzlich beim örtlichen Trödler an der Schallplattengrabbelkiste: Händels »Feuerwerksmusik « mit dem jungen Lorin Maazel – ein alter Hut. Und Trompetenhits mit Maurice André – nun ja. Doch plötzlich hält man eine lang gesuchte LP-Box bombenfest in den Händen, will man eigentlich das Schnäppchen gleich an Ort und Stelle mit gleichgesinnten Vinyl-Afficionados feiern. Wenn es die in der kleinstädtischen Provinz denn geben würde. Glaubt man aber der Prognose von Kai Seemann, wird sich das Bild auch hier bald ändern und die Konkurrenz auf der Pirsch nach Klassikschallplatten tatsächlich immer größer. »Wenn man sich ein wenig bei den Majors umhört und Stimmungsbilder einholt, scheint es bald so zu sein, dass die Schallplatte der einzige Tonträger ist, der noch physisch verkauft wird.« Für Seemann wäre dieses Szenario beruflich wie auch privat jedoch keine Katastrophe – im Gegenteil. Seitdem Seemann als passionierter Vinylfan mit seiner Firma Speakers Corner für Nachschub an klassisch schwarzem Rillengold sorgt, hat sich Erstaunliches getan. Denn wurde das mediale Kulturgut »Schallplatte« seit der Geburt der CD konsequent als Auslaufmodell verschrien und damit zum Trödler getragen, scheint sich der Wind allmählich wieder zu drehen. Inzwischen ist es längst nicht mehr nur ein handverlesener Kreis an audiophilen High-End- Verbrauchern, die bei den wieder aufgelegten, analogen Schätzen zugreifen. Seit Seemann vor 15 Jahren begann, die Masterbänder von Klassik-Kultlabels wie Mercury, Decca, Deutsche Grammophon und EMI auf Vinyl zu übertragen, wächst der Absatz kontinuierlich. Von den 350 Titeln im Speakers-Corner-Katalog sind ein gutes Drittel Klassik-LPs. Und selbst schwächere Titel erreichen mittlerweile eine verkaufte Auflage von 2.000 Stück, während sich etwa das Album »España« mit dem London Symphony Orchestra unter Ataúlfo Argenta mit 10.000 Stück längst zum Renner gemausert hat. Seemann: »Unsere Klassikkäufer sind mit der Platte groß geworden und viele einfach unzufrieden damit, was auf CD veröffentlicht oder wiederveröffentlicht wird.« Auch wenn Seemann hinzufügen muss, dass »wir mit unserer Kundschaft altern«, scheinen Marktanalysen die klangkulinarischen Nostalgiker als einen nicht mehr unbedeutenden Wirtschaftsfaktor ausgemacht zu haben. Schließlich hat selbst Sony bereits zahlreiche Glenn-Gould- Einspielungen auf 180 Gramm schwerem Vinyl veröffentlicht. Und Stings »Dowland«-Projekt oder Frau Netrebko bieten in LP-Hüllen auch optisch eine attraktive Alternative zum handlichen CD-Design.
Für ein solch haptisches Erlebnis sorgt nun ebenfalls ein ganzes Dutzend an LP-Veröffentlichungen, mit dem ein Stück DDR-Musik- und Interpretationsgeschichte aufgearbeitet wird. Aus dem Archiv des volkseigenen Eterna-Labels wurden dafür zwölf Einspielungen herausgepickt und ihre Originalbänder per Direct Metal Mastering und eines noch makellos funktionierenden DDRPresswerks nahezu authentisch wiederbelebt. Unter den neuen alten Vinylaufnahmen aus den Jahren 1955 bis 1985 finden sich so Mahlers »Lied von der Erde« unter Kurt Sanderling, Herbert Kegels »Carmen«-Potpourri oder Mendelssohns Jugendsinfonien mit dem Leipziger Gewandhausorchester unter Kurt Masur. Und selbstverständlich darf auch Beethovens »Eroica« unter Franz Konwitschny nicht fehlen: die allererste Klassikschallplatte des Arbeiter- und Bauernstaates. Über all diesen Aufnahmen lag damals die leitende Hand des Labelchefs Dieter-Gerhardt Worm. Und wenn er heute, mit seinen knapp 80 Jahren, die nun in Klang und Dynamik etwas aufgeputzten Schallplatten samt Originaloptik in den Händen hält, werden zwangsläufig zahllose Erinnerungen wach. Neben all den akustischen Vorzügen besitzt das Vinyl nämlich noch eine zweite Überlebensgarantie: Mit der LP kann man tatsächlich noch einmal die Zeit ein wenig zurückdrehen.

Guido Fischer, 31.05.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2008



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