Der Musikwissenschaftler Arthur Seidl stellte 1915 ein musikalisches Kompendium zusammen: Auf der Liste des Wagner-Biografen Seidl war neben Bach-Chorälen, Beethovens „Egmont“-Ouvertüre und Schuberts Quartett „Der Tod und das Mädchen“ Max Reger besonders umfangreich vertreten – zum Beispiel mit den Variationen und der Fuge über „Heil dir im Siegerkranz“ und der gerade erst veröffentlichten „Vaterländischen Ouvertüre“
„Musikalische Kriegsrüstung“ hatte Seidl diese Auswahl von Stücken genannt, die für ihn geeignet war, um etwa bei patriotischen Zusammenkünften, Heldengedenkfeiern und auch zur „geistigen Aufrichtung“ gespielt zu werden, wie es Sabine Giesbrecht in ihrem 2005 erschienenen Aufsatz „Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein“ beschrieben hat. Kaum waren ab dem 28. Juli 1914 die ersten Kriegserklärungen formuliert, wurde erst schriftlich aufgerüstet (angeblich sollen allein im ersten Kriegsmonat August anderthalb Millionen Kriegsgedichte entstanden sein), dann lief die Heldenkür deutscher Komponisten auf Hochtouren. Diese Haltung auf deutscher Seite stieß selbstverständlich bei den Franzosen auf Widerspruch. So war Claude Debussy direkt im ersten Kriegsjahr darum bemüht, den deutschen Einfluss aus der französischen Musik zu eliminieren. Und sein bekanntestes Proteststück aus dieser Zeit ist die „Berceuse héroïque“, mit der er den deutschen Überfall vom neutralen Belgien verurteilte.
Überhaupt gibt es zahllose Musikstücke, mit denen bekannte Komponisten unmittelbar die Zeichen der Zeit verarbeitet haben. Maurice Ravel beispielsweise, der sich ab September 1914 im baskischen Örtchen Saint-Jean-de-Luz um die ersten Kriegsverwundeten kümmerte, hatte den Finalsatz seines Klaviertrios mit wilden Klavierkaskaden gespickt, die fast wie das Sturmläuten der Kirchenglocken anlässlich der Mobilmachung anmuten. Und 1917 stellte Ravel jedem Satz seiner Suite „Le tombeau de Couperin“ den Namen von Freunden zur Seite, die im 1. Weltkrieg gefallen waren. Als „War Requiem“ ist hingegen die 3. Sinfonie des Engländers Ralph Vaughan Williams später bezeichnet worden, die er als in Frankreich stationierter Soldat 1916 begonnen hatte. Und mit der „Geschichte vom Soldaten“ schrieb Igor Strawinski im letzten Kriegsjahr 1918 ein Stück, das zwar nicht unmittelbar das aktuelle Kriegstosen reflektiert, aber dennoch auch die Tragik jener Jahre widerspiegelt.
Zu den berühmtesten Interpreten, deren Schicksal eng mit dem 1. Weltkrieg verknüpft ist, gehört zweifellos der Pianist Paul Wittgenstein. Der Österreicher hatte sich 1914 freiwillig gemeldet und wurde gleich so schwer verwundet, dass man seinen rechten Arm amputieren musste. Dass der Bruder des berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein dennoch in die Musikgeschichte eingehen sollte, ist seinem eisernen Willen und den sehr guten Kontakten zu prominenten Komponisten zu verdanken. So trainierte Wittgenstein die Finger der linken Hand solange, bis er mit seiner überragenden Technik nicht nur in Europa und in den USA für Furore sorgte. Er bestellte u.a. bei Maurice Ravel und Sergei Prokofjew Konzerte für die linke Klavierhand und Orchester, die heute zu den Klassikern der Moderne gehören.
Guido Fischer, 24.05.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2014
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